Ein Gespräch mit meiner Großmutter
26.11.06
Kategorie: ERFAHRUNGEN, Koffer, Kummer und Kismet
Auf Muslimische-Stimmen.de frischen Kinder, Neffen und Enkel die Erinnerungen der ersten Generation auf und reden mit ihnen über ihre Ankunft in Deutschland, ihre Beweggründe und Emotionen.
Wenn Sie Interesse haben bei dieser Serie mitzumachen, kontaktieren Sie uns und wir helfen Ihnen das Gespräch (in Form von Video, Text oder Audio) zu dokumentieren. Den Anfang macht Seyma Yilmaz. Sie ist in Berlin geboren und ist 16 Jahre alt. Ihre Großmutter, Muazzez Yilmaz, ist 57 Jahre alt und kam vor 34 Jahren aus der Türkei (Marmaragebiet) nach Deutschland.
Seyma: Oma, wann bist Du hierher gekommen und warum?
Muazzez: Im November 1972. Ich habe mit 16 Jahren geheiratet und lebte mit der Familie meines Mannes zusammen im Dorf. Ich wollte gerne unabhängig von seiner Familie eine eigene Familie gründen und für uns selber sorgen. Sechs Jahre bin ich im Dorf geblieben und habe drei Söhne bekommen. Dann habe ich mich entschieden nach Deutschland zu gehen, um dort zu leben und zu arbeiten. Von meinem Vorhaben habe ich der Familie aber nichts gesagt. Ich hab eigenständig ein Formular ausgefüllt und hab auf meine Papiere gewartet.
Seyma: Du warst also 22 Jahre alt als Du nach Deutschland kamst. Bist Du alleine hierher gekommen?
Muazzez: Ja, das bin ich. Ich musste erst meinen Schwiegervater überzeugen und habe sechs Monate später meinen Mann nach Deutschland geholt.
Seyma: Aber wo hast Du gewohnt? Kanntest Du irgendjemanden in Berlin?
Muazzez: Der Bruder meines Mannes lebte schon hier. Ich hatte keine große Angst davor die Türkei zu verlassen. Ich wollte unabhängig sein, arbeiten und meine Familie hierher holen.
Seyma: Und was war mit meinem Vater und meine Onkel?
Muazzez: Als ich vier Monate in Deutschland lebte, starb nene (die Großmutter der Kinder von Muazzez). Ich war sehr besorgt, wer denn nun auf sie aufpassen würde. Einige Familienmitglieder haben sich um sie gekümmert. Erst ein Jahr später konnte Dein Vater, der Älteste, nach Deutschland kommen. Sechs Monate später, als wir genug Geld hatten, um ein Auto zu kaufen, sind wir in die Türkei gefahren und haben Deine beiden Onkel geholt. Dein Vater war damals sechs Jahre alt. Deine Onkel fünf und vier. Ich hatte sie sehr vermisst.
Seyma: Wo hast Du denn gearbeitet?
Muazzez: Ich hatte mich am Anfang verpflichtet, zwei Jahre als Putzfrau zu arbeiten. Später habe ich in einer Tortenfabrik von Hilbig und bei Edeka als Verkäuferin im Bereich Obst und Gemüse gearbeitet. Am längsten, nämlich 10 Jahre, habe ich als Dreherin zusammen mit deinem Großvater in einer Fabrik von Mercedes gearbeitet. Weil die Arbeit sehr schwer war, habe ich Finger- und Rückenschmerzen bekommen, sodass ich nicht mehr weitermachen konnte.
Seyma: Wie hast Du Dich verständigt? Hast Du Deutsch gelernt?
Muazzez: Deutsch habe ich eher durch meine Kollegen gelernt. Aber das meiste habe ich im Alltag erlernt. Später habe ich drei Monate lang einen Deutschkurs besucht. Und heute besuche ich wieder einen. (grinst)
Seyma: Hattest Du hier nur türkische Freunde und Bekannte oder auch Deutsche?
Muazzez: Beides. In Lichtenrade, wo wir gewohnt haben, hatte ich ein altes nettes Ehepaar als Nachbarn. Sie haben zwei Jahre lang auf den Jüngsten, der in Berlin geboren ist, aufgepasst, während ich auf der Arbeit war – ohne einen Cent zu verlangen! Ich hatte und habe ein gutes Verhältnis zu den Deutschen…
Seyma: Wie war Dein erster Eindruck von Berlin? Hast Du es bereut, hierher gekommen zu sein?
Muazzez: Anfangs habe ich gezweifelt. Ich habe gedacht: Muazzez, warum bist du bloß hierher gekommen? Warum bist du nicht einfach in deinem Dorf geblieben und dich von Brot und Zwiebeln ernährt? Aber aus drei Monaten wurden schnell drei Jahre und aus drei wieder sechs. Und nun hab ich mich an Deutschland gewöhnt.
Seyma: Was war Dein schönstes Erlebnis in Deutschland?
Muazzez: Der schönste Moment war als ich Deinen Vater am Flughafen wieder in meine Arme schließen konnte. Mein Schwiegervater wollte ihn zunächst nicht hierher schicken und hat es dann doch gemacht. Es war also eine Überraschung für mich.
Seyma: Bist Du eigentlich froh über Deine Entscheidung nach Deutschland gekommen zu sein?
Muazzez: Ja, das bin ich. Im Dorf hätte ich nie die Möglichkeit gehabt, mich weiterzuentwickeln und Neues über meine Religion zu erfahren. Ich habe zu vielen Menschen mit verschiedenem Hintergrund Kontakt und setz mich mit ihnen und ihren Gedanken auseinander.
Seyma: Also hast Du auch nicht vor zurück zugehen?
Muazzez: Eigentlich nicht. Ihr ja seid hier! Ich kann mich nicht von euch lösen. Ich fühl mich hier sehr wohl. Ich meine, ich habe über die Hälfte meines Lebens hier verbracht. Warum sollte ich zurückkehren?
Seyma: Es ist ja auch so, dass Du hier als Türkin und in der Türkei als Deutsche gesehen wirst? Sie sagen ja immer: „Ah, die deutsche Muazzez ist da!“
Muazzez: Aber das stört mich überhaupt nicht. Ich habe hier gearbeitet. Meine Kinder sind hier aufgewachsen und meine Enkel hier geboren. Als was fühlst Du Dich denn, Seyma?
Seyma: Ich finde, ich habe nicht viel mit der Türkei zu tun, weil ich hier geboren bin und ich glaube, dass ich dort nicht leben könnte. In den Ferien fliege ich gerne dort hin, aber in Deutschland fühl ich mich freier.
(Das Gespräch wurde auf Türkisch geführt und ins Deutsche übersetzt.)
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