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Islam und Staatsbürgerschaft in Deutschland
04.07.07


Von:  Jonathan Laurence

Kategorie: DOSSIER Muslimische Vielfalt, POLITIK

Jonathan Laurence

Die Erfahrung Deutschlands mit der nach Frankreich größten muslimischen Bevölkerungsgruppe in Westeuropa zeigt, dass eine signifikante muslimische Bevölkerung im Herzen Europas weder gewalttätige islamistische Gruppen hervorbringen, noch sozial destabilisierend wirken muss. Die deutsche Politik erkennt heute an, dass Deutschland ein Einwanderungsland mit einem großen, auf Dauer ansässigen türkischen und muslimischen Bevölkerungsanteil ist. Die früheren Regierungen hatten entweder Glück oder waren beeindruckend weitsichtig bei ihrer Städteplanung und verhinderten die Entstehung innerstädtischer Ghettos. Türkische Zugewanderte und ihre in Deutschland geborenen Nachkommen sind bisher mit keinen bedeutenden Unruhen oder gar Terrorismus in Verbindung gebracht worden - im Gegensatz zu den Randalierern in den französischen banlieues und zu Großbritanniens "home-grown" Terroristen. Aber wie die französische Erfahrung gezeigt hat, sind politische und sozioökonomische Ungleichheit und Diskriminierung eine gefährliche Mischung. Die Vorteile einer einstmals vorausschauenden Politik dauern nicht endlos an, und so hatte die Ablehnung deutscher Politiker, die Vielfältigkeit der Gesellschaft anzuerkennen, durchaus ihre Kosten. Wenn die wirkliche Integration, die sozialen Frieden und Stabilität absichert, erreicht werden soll, muss eine Reihe von Themen noch effektiver angegangen werden. Die Lösung der Probleme, insbesondere in den Bereichen Bildung und Arbeitsmarkt, sind für die benachteiligten Personen unter den mehr als zwei Millionen Menschen türkischen Ursprungs und den Hunderttausenden anderen Menschen muslimischen Hintergrunds am dringlichsten. Die Beziehung zwischen Deutschlands muslimischer Bevölkerung und der deutschen Gesellschaft war bis vor kurzem durch die verweigerte Anerkennung der politischen Klasse für das Faktum gekennzeichnet bestimmt, dass die "Gastarbeiter" auf Dauer bleiben würden. Über zwei Generationen sorgte die Verwaltungspraxis dafür, dass viele Türken in Ungewissheit darüber lebten, ob sie möglicherweise nach ,Hause' zurückkehren wollten. Das wiederum förderte die heute beklagte Tendenz zu einer sprachlichen und sozialen Segregation. Seit dem Jahr 2000 haben sich Selbstbild und Politik Deutschlands allerdings geändert, die Einwanderungsrealität wurde anerkannt. Damit ist eine neue Bereitschaft entstanden, das Staatsbürgerschaftskonzept grundlegend zu erweitern. Die Auffassung aber, dass die Integration der Einbürgerung vorausgehen muss und die damit verbundene Anforderung, dass Türken und andere Muslime sich zuerst integrieren und ihr "Deutschsein" demonstrieren sollten, bevor sie die Staatsangehörigkeit erwerben können, bleibt eine außerordentlich starke Bremse für diesem Prozess. So wurde die Liberalisierung des Staatsbürgerschaftsgesetzes begleitet von stetig gesteigerten Bedingungen für die volle Partizipation von Einwanderern, angefangen bei ideologisch motivierten Loyalitätstests bis hin zu intensivierter Beobachtung islamischer Organisationen. Heute gibt es einen offensichtlichen Gegensatz zwischen dem Lippenbekenntnis zu Integration und gesteigerten Anforderungen, die das Erreichen dieses Ziels erschweren. Darin spiegelt sich das grundsätzliche Spannungsverhältnis zwischen dem bisher dominierenden Modell einer ethnisch-kulturell homogenen Gesellschaft und dem neuen Wunsch, sich auf die Realität einer vielfältigen Gesellschaft einzustellen. Die vorgeschlagenen Einbürgerungstests legen besonderen Wert auf die "ideologische Korrektheit" und verlangen damit von den Antragstellern praktisch, der derzeitigen öffentlichen Meinung zu speziellen Fragen zuzustimmen. So werden selbst vollkommen gewaltlose islamistische Auffassungen als an sich "undeutsche" Meinung von Ausländern stigmatisiert. Hinter diesen Schwierigkeiten steckt der Versuch der Politik im wiedervereinigten Deutschland, vorsichtig das Prinzip der freien Meinungsäußerung und den Schutz der demokratischen Ordnung auszubalancieren. Der Schutz demokratischer Institutionen ist ein zentraler Verfassungsgrundsatz und die Beobachtung aller, die an den Grenzen zwischen "gewaltrelativierend" und "gewalttätig" manövrieren, ist sicherlich notwendig. Doch zugleich verhindern manche Sicherheitsmaßnahmen gegen Extremismus jeglichen Dialog und verschärfen unter Muslimen den Widerstand gegen den Staat. Die Verfassungsschutzbehörden von Bund und Ländern, die potentiell antidemokratische und verfassungsfeindliche Aktivitäten von vereinsrechtlich organisierten bis zu lose im Untergrund arbeitenden Gruppen beobachten, scheinen nicht in der Lage, angemessen mit islamistischen Organisationen (wie Milli Görüs, IGMG) umzugehen. Als "islamistisch" kategorisiert und damit im Verfassungsschutzbericht aufgelistet zu werden, kann beispielsweise zur Verweigerung der Staatsbürgerschaft, zur Ablehnung der Berechtigung für Sozialwohnungen und von Aufenthaltsgenehmigungen führen. Diese Kategorisierung zieht intensive Beobachtung einiger Organisationen und ihrer Mitglieder nach sich, selbst wenn diese Organisationen sich gesetzestreu zeigen. Eine solche Gesinnungsüberwachung wird von Türken und anderen Muslimen als diskriminierend wahrgenommen. Sie ist feindselig im Geiste und vielfach provokativ in der Praxis. Man könnte annehmen, die Islamisten stellten angesichts ihrer kleinen Anzahl keine relevante Gefahr für die Integration von Muslimen in Deutschland dar. Gemessen daran ist die Beobachtung durch den Verfassungsschutz ein allzu undifferenziertes Instrument, das zur Stigmatisierung führt und die vielen gewaltablehnenden mit den wenigen potentiell gewaltbereiten Gruppen über einen Kamm schert. Eine weitere Schwierigkeit ergibt sich aus den Bemühungen der türkischen Regierung, die Vertretung der Muslime in Deutschland durch die Türkisch-Islamische Union für religiöse Angelegenheiten (DITIB) zu monopolisieren. Mit diesem Instrument will die Türkei das mögliche Anwachsen einer Opposition in der türkischen Diaspora eindämmen. Der Erhalt der säkularen türkischen Ordnung hängt teilweise davon ab, dass islamistische und andere Minderheiten in der Türkei und im Ausland unter Kontrolle gehalten werden. Die privilegierte Partnerschaft zwischen DITIB und der deutschen Regierung steht indessen im Konflikt mit der pluralistischen Beschaffenheit der muslimischen Bevölkerung Deutschlands, insbesondere mit der Präsenz arabischer Sunniten, Schiiten und Kurden sowie von Anhängern alternativer Strömungen des türkischen Islamismus.
 
  Das Dilemma der deutschen Behörden liegt darin, dass sie Ankaras Kooperation in praktischen Angelegenheiten brauchen, den monopolistischen Ansprüchen von DITIB aber nicht nachgeben können, ohne dass die Integration der anderen legitimen (verfassungskonformen) Strömungen religiöser und politischer Meinungen in der Zuwandererbevölkerung Schaden nimmt. Die deutsche Regierung berief im September 2006 eine Deutsche Islamkonferenz (DIK) ein. Hier wurde die Gruppe der Gesprächspartner weit über DITIB hinaus erweitert. Weitere Treffen wurden in 2007 abgehalten und im April 2007 unternahmen führende Islamische Verbände eine große Anstrengung zur Selbstorganisation in einem Koordinierungsrat. Ob diese Bemühungen letztlich erfolgreich sein werden, oder nicht, Behörden auf Bundes- und Landesebene müssen sicherstellen, dass institutionelle Arrangements für Konsultationen mit Vertretern religiöser Gruppen gefunden werden, die die Pluralität der existierenden Anschauungen und organisatorischen Strukturen berücksichtigen. Darüber hinaus ist es dringend notwendig, zwischen der Repräsentation religiöser Interessen auf der einen und sozialer sowie politischer Interessen auf der anderen Seite zu unterscheiden. Die DIK muss vermeiden, Aufgaben an sich zu ziehen, die richtigerweise in die Zuständigkeit der politischen Parteien fallen und diese damit daran zu hindern, ihre notwendige Rolle im Integrationsprozess zu erfüllen. Der größte Schutz vor dem religiösen Extremismus und importierten Fundamentalismus ist ein intensiver Dialog, der gegenseitiges Vertrauen zwischen den islamischen Verbänden und dem Staat fördert. Fremdheit und Entfremdung werden nicht dadurch überwunden, dass zur Bildung einer zusammenhängenden "Glaubensgemeinschaft" aufgerufen wird, wie dies die DIK versucht. Ein solcher Weg birgt das Risiko einer Ethnisierung sozio-ökonomischer Probleme. Es sollte weiterhin den Parteien vorbehalten bleiben - und nicht einem durch die Regierung gegründeten religiösen Forum - türkischstämmige Deutsche in sozialen, ökonomischen und politischen Fragen zu repräsentieren. Diese Bürger müssen selbst die Sache in die Hand nehmen. Parteien wiederum sollten sie nicht nur als Türken oder Muslime, sondern als Mitglieder der deutschen Gesellschaft mit unterschiedlichsten Interessen vertreten. Es gibt klare Anzeichen dafür, dass die Parteien sich langsam der sich verändernden Situation anpassen. Fast alle haben inzwischen eine türkische oder muslimische Parteigruppierung, die versucht, Bürger mit Migrationshintergrund zu gewinnen und es gibt mittlerweile eine Handvoll gewählter Mitglieder im Deutschen Bundestag und in den Landtagen. Dennoch ist es zu früh, die politische Partizipation unter türkischen Jugendlichen zu beurteilen, denn die erste Generation von Wahlberechtigten wird gerade erst erwachsen. Die bedeutendste Herausforderung wird es sein, Gleichheit in der Bildung, Ausbildung und auf dem Arbeitsmarkt zu erreichen. Staatliche Schulen entlassen ausländische Schüler - insbesondere türkischer Herkunft - in zunehmend prekäre Lebenslagen. Aufgrund sprachlicher Nachteile werden türkische Schüler und Schülerinnen zweimal so oft wie Deutsche als Fälle für "Sonderschulen" eingestuft, und zur Hauptschule, der niedrigsten Form der deutschen Schulausbildung, geschickt. Lediglich etwa 10 Prozent der SchülerInnen türkischer Herkunft besuchen ein Gymnasium, im Vergleich zu einem Drittel deutscher SchülerInnen. Sehr wenige Türken erhalten eine höhere Bildung - weniger als 25.000 von 235.989 in Deutschland lebenden türkischen Jugendlichen im Alter von 18- bis 25 Jahren wurden zum Wintersemester 2004/2005 an deutschen Universitäten angenommen. Damit gab es sogar mehr chinesische Studienanfänger (27.000). Die Zusammenhänge zwischen Sprachkenntnissen und Bildungserfolg, zwischen früher Aussortierung und beruflicher Ausgrenzung sowie ungenügender sozioökonomischer Integration sind offensichtlich. Doppelt so viele türkische wie deutsche Schüler verlassen die Schule ohne einen Abschluss. Das spiegelt sich auch in den für Migrantenjugendlichen verfügbare Lehrstellenangebote wider, die den Zugang zu wirtschaftlich lukrativen Berufen darstellen. Lediglich 25 Prozent jugendlicher Migranten erhalten eine Lehrstelle. Im Vergleich dazu liegt der Anteil junger Deutscher in einem Lehrstellenverhältnis bei 59 Prozent. Die allgemeine Arbeitslosenrate unter Türken liegt mit 25,2 Prozent doppelt so hoch wie der nationale Durchschnitt. Deutschland hat seinen Status als Einwanderungsland akzeptiert und muss nun um  dessen Gestaltung kämpfen. Die politischen Akteure sollten sich auf praktische Probleme konzentrieren, die dem sozialen Zusammenhalt abträglich sind: Politische Entfremdung, übereifrige Überwachung und sozioökonomische Ungleichheit. Die Zurückhaltung der deutschen Seite, die Türken als Minderheit zu akzeptieren und ihr Beharren, dass sie die Beziehungen zu ihrem Ursprungsland brechen, wurden oft als Gleichgültigkeit wahrgenommen. Die wiederholte Kritik von Politikern an Parallelgesellschaften hat nicht geholfen, diese zu verhindern. Die fundamentalsten Probleme türkischstämmiger Deutscher und anderer Muslime liegen in der Aberkennung bürgerlicher Rechte, sozialer Diskriminierung und dem Fehlen ökonomischer und politischer Integration - und nicht in der Religion. Wie die Regierung weiß, können eine oder zwei hochrangige Konferenzen allein den Bedarf nach einem langfristigen Prozess gegenseitiger Anerkennung und dem Aufbau einer Beziehung nicht stillen. Die Parteien und andere politische Institutionen sind die geeigneten Mittel, durch die ein Wandel herbeigeführt werden könnte und das wird nicht nur dazu beitragen, die Gesellschaft sicher und stabil zu halten. Ein solcher Prozess könnte Deutschland über das kommende Jahrzehnt hinaus in die Lage versetzen, sich mit größerem Selbstvertrauen wichtigen Themen der Außenpolitik, wie der Beziehung der EU zur Türkei und dem Friedensprozess im Nahen Osten, zuzuwenden. Jonathan Laurence ist Assistenzprofessor für Politikwissenschaften am Boston College. Aktuell forscht er am Center on the US and Europe at the Brookings Institution. Er ist Verfasser des Berichts "Islam and Identity in Germany". Weiterführende Literatur Jonathan Laurence und Justin Vaisse (2007): Intégrer L'islam: La France et ses musulmans. Enjeux et réussites. Odile Jacob; Integrating Islam. Brookings Institution Press 2006. Jonathan Laurence (2007): Islam and Identity in Germany.